Semantiken der (Selbst-)Konstruktion. (Auto-)Biographisches Arbeiten in Soziologie und Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert

Semantiken der (Selbst-)Konstruktion. (Auto-)Biographisches Arbeiten in Soziologie und Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld; Zentrum für Biographik, Universität Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.01.2010 - 23.01.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Carsten Heinze, Fachbereich Sozialökonomie, Universität Hamburg; Christian Meyer, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld

Obgleich sich die Biographik als eigenständiges Forschungsfeld rege weiter entwickelt, bestehen zwischen den an ihr beteiligten Disziplinen kaum Ansätze der gemeinsamen Diskussion theoretischer Grundlagenfragen oder methodischer Vorgehensweisen – ausgehend von dieser Feststellung war es das Ziel des Bielefelder Workshops Historiker/innen und Sozialwissenschaftler/innen an einen gemeinsamen Tisch zu vereinen, um fachspezifische Zugangsweisen in einem interdisziplinären Dialog zu thematisieren.

Der Auftakt des Workshops erfolgte durch ALF LÜDTKE (Göttingen/Erfurt) mit einem Vortrag, in dessen Mittelpunkt Ausschnitte aus dem privaten Aufschreibebuch eines ehemaligen Drehers bei Krupp standen. Lüdtke konfrontierte das Publikum mit mehreren Ausschnitten aus unterschiedlichen Zeitpunkten der Niederschrift, etwa aus der Inflationszeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs, und forderte es auf, eigene Gedanken zur Erschließung der Quelle anzustellen. Dabei wurde zunehmend die Komplexität der Aufschreibepraxis deutlich, mit der die Eintragungen erfolgten: In ihm sortierte der Schreiber in einem kolumnenartigen Schreibstil Erlebnisse aus so unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Familie, Wetter, Nahrungsmittel oder Politik. Lüdtke verfolgte insgesamt das Ziel, seine Hörer/innen für die Mehrschichtigkeit der historischen Akteure zu sensibilisieren, und warnte hiervon ausgehend vor der Konstruktion von „Normalbiographien“. Ein Eintrag aus dem Jahr 1945 verdeutlichte dieses Plädoyer besonders eindringlich. Nicht der erwartbare Existenzkampf im Nachkriegsdeutschland habe die Erfahrungswelt des Arbeiters geprägt – im vorliegenden Eintrag in der Zeit vom 10. bis zum 24. Juli. Stattdessen stößt man für diesen Zeitraum im Aufschreibebuch auf die Überschrift: „Mein Erholungsurlaub“.

Dem Eröffnungsvortrag schloss sich eine Podiumsdiskussion mit Lüdtke, ALOIS HAHN (Trier/Luzern) und GABRIELE ROSENTHAL (Göttingen) an. Rosenthal verschaffte den anwesenden Historiker/innen in einer knappen Einführung einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der soziologischen Biographieforschung, während Hahn dem Publikum am Beispiel der Beichte sein Interesse am Thema „Biographie“ verdeutlichte. Weniger die jeweilige Biographie selber, sondern jene Institutionen und Praktiken, welche einen Menschen zur biographischen Reflektion veranlassen, stellte er in den Mittelpunkt seiner Arbeit.

Die Frage, welche Selektionsprinzipien die Entstehung von biographischen Texten organisieren, bildete in der Anschlussdiskussion den zentralen Bezugspunkt der Beiträge. Hier zeichneten sich durchaus kontroverse Ansichten ab. Zwar waren Hahn und Rosenthal sich darin einig, dass es insgesamt mehrere „Rahmungen“ biographischer Texte – beispielsweise Gattungszwänge, Kommunikationssituationen oder erlebte Geschichte – gäbe, welche die biographische Erinnerung strukturieren. Unterschiedlich wurde allerdings der Einfluss der einzelnen Faktoren bewertet. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung in der Arbeit mit narrativen Interviews hob Rosenthal die konkret erlebte Geschichte der Interviewten als „Hauptzwang“ hervor. Auch Hahn stellte fest, dass die Vorgeschichte der konkreten Personen von Bedeutung sei, so beispielsweise, wenn es sich bei der Interviewten um die Tochter eines Holocaust-Opfers handele. Im Gegensatz zu Rosenthal billigte er jedoch – der inhaltlichen Linie seines Vortrags folgend – den jeweiligen Gattungszwängen, insbesondere der Interviewsituation, stärkeres Gewicht als Rosenthal zu. Lüdtke plädierte hingegen für einen Perspektivwechsel: Statt nach Selektionsregeln oder -prinzipien der Erinnerung zu suchen, schlug er vor, den Fokus auf Selektionspraktiken zu richten. Auf diese Weise öffnete sich laut Lüdtke der Blick für den Eigen-Sinn und die Vielfalt von Erinnerungsprozessen, welche bei der Suche nach Regeln in Gefahr liefen, übersehen zu werden.

Der eigentliche Workshop begann am folgenden Tag mit einem einführenden Panel. Zu Beginn problematisierte MYRIAM RICHTER (Hamburg) die Theoriegeladenheit, die sich selbst in vermeintlich wertfreien biographischen Kleinformen wie Personeneinträgen verstecke. Solche „Bioseme“, verstanden als kleinste biographierelevante Bedeutungsträger, transportierten demnach ein spezifisches Verständnis von Lebensläufen. Am Beispiel eines Lexikoneintrags zu Johann Wolfgang von Goethe zeigte Richter auf, dass sich aus den präsentierten Informationen ein Grundbedürfnis an Kohärenz sowie ein finalistischer Charakter des präsentierten Lebenslaufs herauslesen lassen. Die hinter solchen Einträgen stehenden Versuche, einen ‚Wesenskern’ des Individuums sichtbar zu machen, überblendeten jedoch die Multiperspektivität des Biographischen. Unterm Strich zielten Richters Ausführungen auf eine Sensibilisierung für die oftmals nur schwer zu erkennenden Konsequenzen der biographischen Arbeit.

Anschließend thematisierte MARÉN SCHORCH (Bielefeld) aus soziologischer Perspektive qualitative Interviews als Gelegenheiten der Selbstthematisierung. Schorch argumentierte, diese bedienten weniger narzisstische Bedürfnisse der Interviewten, sondern seien vielmehr als Ausdruck für ein Bedürfnis nach Selbsterklärung zu verstehen. Hinter diesem Bedürfnis stünde wiederum ein sich in der Moderne artikulierender Anspruch auf Besonderheit, welcher als Biographiegenerator wirke. Die folgende Diskussion beider Beiträge konzentrierte sich vor allem auf theoretische und methodische Problemstellungen, die der Arbeit mit qualitativen Interviews zugrunde liegen. So etwa in Fällen, bei denen Interviewte auf bereits abgeschlossene Projekte der Selbstthematisierung – zum Beispiel auf eine Autobiographie – zurückgreifen können. Es wurde darauf hingewiesen, dass die betreffenden Interviews weniger als Konstruktionen einer Biographie, sondern vielmehr als Konstruktionen von Konstruktionen zu lesen seien.

Das zweite Panel des Tages widmete sich dem Thema der Autobiographien. JULIA HERZBERG (Bielefeld/München) thematisierte in ihrem Vortrag bäuerliche Autobiographik des vorrevolutionären Zarenreichs, welche in Reaktion auf verschiedene Schreibaufrufe, etwa des Volksaufklärers Nikolaj Rubakin oder des Slawisten Aleksandr Jacimirskij, entstand. Solche Autobiographieprojekte deutete Herzberg als neuartige Gelegenheit, innerhalb einer sich ausdifferenzierenden Moderne biographischen Erfolg sichtbar werden zu lassen. Die bäuerlichen Reaktionen auf die Schreibaufrufe seien in erster Linie als eine Zivilisierungsstrategie zu lesen. So dominierte laut Herzberg in den Antworten auf Rubakins Aufruf der Identitätsentwurf des sich selbst bildenden Lesers, der sein eigenes Leben entlang der getätigten Lektüre strukturierte. Indem sich die Bauern als asketische, vom Drang nach Bildung getriebene sowie nach Gemeinwohl strebende Subjekte generierten, überbrückten sie soziale und religiöse Gegensätze und konnten zudem politische Partizipationsansprüche legitimieren. Sowohl MYRIAM RICHTERs Kommentar als auch Fragen aus dem Publikum griffen im Anschluss die Entstehungskontexte der verfassten Autobiographien unter der Fragestellung auf, inwieweit die Schreibaufrufe selbst als Ko-Autoren der Texte fungierten und damit das von den Schreibern entworfene Selbstbild vorstrukturierten. Herzberg wies in diesem Kontext auf den historiographischen Mehrwert der Schreibaufrufe hin. Anhand der an die Verfasser herangetragenen Erwartungen ließen sich die im zaristischen Russland zirkulierenden Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbiographisierung sichtbar machen.

Am Beispiel von André Tardieu (1876-1945), Parlamentarier und dreimaliger Präsident des Ministerrats während der III. Republik, zeigte ISOLDE ZIMMERMANN (Bielefeld) anschließend die Schwierigkeiten von Vertretern der politischen Profession auf, bei ihren Selbstkonstruktionen auf die Beschreibungskategorie des Politikers zurückzugreifen. Die im Politikerbegriff gespeicherten Stereotypen wie „egoistisch“ oder „skrupellos“ erschwerten zwar einerseits seine Verwendung als Selbstbezeichnungsterminus, ermöglichten andererseits jedoch seinen Gebrauch als ‚Kampfbegriff’. Mit ihm ließen sich nicht nur politische Gegner diffamieren, sondern darüber hinaus das in den Augen seiner Kritiker ineffizient arbeitende parlamentarische System der III. Republik diskreditieren. Vor diesem Hintergrund habe die explizite Abgrenzung vom Negativ-Bild des Politikers auch eine Strategie zur Wahrung des beruflichen Kapitals in Form von Legitimation und Glaubwürdigkeit dargestellt. In ihrem Kommentar umriss RUTH HEFTRIG (Halle-Wittenberg) den Mehrwert von Zimmermanns Projekt für die Biographieforschung. Aus biographiehistorischer Sicht lasse sich am Politikerbegriff ein Fallbeispiel für jenes Muster der Selbstkonstruktion nachvollziehen, in dem die Akteure sich über die Abgrenzung von einem Kollektiv definierten, zu dem sie eigentlich gehörten.

Das folgende Panel stand unter der Überschrift „Selbst- und Fremdkonstruktionen“. Zunächst behandelte TOBIAS WEIDNER (Bielefeld) am Beispiel von Rudolf Virchow die Frage, inwieweit semantische Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Politik zu einem biographischen Problem werden konnten. Rudolf Virchow, noch heute als Prototyp des „politischen Mediziners“ geltend, sei zu Lebzeiten mit polemisierenden Fachkollegen konfrontiert gewesen, welche ihm die wissenschaftliche Legitimität aufgrund seines politischen Engagements absprachen. Vor diesem Hintergrund sei es ein Schlüsselproblem Virchows gewesen, die Figuren des Wissenschaftlers sowie des Politikers in einer Person zu vereinen, sie also in eine einheitliche Identität zu überführen. Dem lag laut Weidner eine Grundkonstellation dichotomisierender Semantiken des Politischen und Wissenschaftlichen zugrunde, die Virchow in seinen Selbstkonstruktionen spiegelte. Erst neuartige Entwicklungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hätten Virchows biographisches Dilemma einer Auflösung zugeführt. Zu nennen sei hier die Annäherung zwischen Politik und Medizin in Form der öffentlichen Hygiene, welche im Verbund mit semantischen Entwicklungen des Polit-Vokabulars – insbesondere dessen Ausdifferenzierung sowie die Stärkung partizipativer und affirmativer Bedeutungsstränge – neue Deutungsmöglichkeiten eröffnete. Nun habe sich Virchow mit Hilfe der positiv besetzten Selbstbeschreibungskategorie des „Halbpolitikers“ identifizieren können, welche er der abwertenden Figur des politischen „Halbwissers“ übergeordnet habe. LEVKE HARDERS (Bielefeld) wies in ihrem Kommentar auf die gelungene Synthese von sprachhistorischen Untersuchungsansätzen und biographischem Erkenntnisinteresse hin, stellte allerdings auch zur Diskussion, inwiefern der von Weidner rekonstruierte biographische Dreischritt ‚Politiker – Mediziner – politischer Mediziner’ für andere denkbare Identitätsbezüge – etwa die des bürgerlichen Mannes und Wissenschaftlers – Raum lasse.

Im Zentrum der Ausführungen von AXEL HÜNTELMANN (Bielefeld) stand mit Paul Ehrlich ein weiterer prominenter Mediziner. Hüntelmann veranschaulichte in seinem Vortrag die den frühen Biographisierungsversuchen inhärenten Modi der Legendenbildung um den Nobelpreisträger. Wie im Falle anderer Wissenschaftler – etwa Robert Koch oder Louis Pasteur – hätten frühere Ehrlich-Biographien das wenig realitätsnahe Bild eines genialen Übermenschen gezeichnet, der sich in seinem Labor auf die Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit begab. Am Beispiel eines spezifischen Topoi, dem der chemischen Begabung, zeigte Hüntelmann die Konstruktion der Legende Paul Ehrlich auf. Sukzessive seien etwa erste chemische Experimente von der Studienzeit in die Schulzeit vorverlegt und genealogisch mit dem naturwissenschaftlichen Interesse des Großvaters in Verbindung gebracht worden, so dass die Entwicklung zum späteren Nobelpreisträger als quasi zwangsläufiges Ergebnis einer Veranlagung deutbar war. ULRICH PREHN (Berlin) plädierte in seinem Kommentar unter anderem dafür, mit Hilfe von Bourdieus Konzept des symbolischen Kapitals die Profiteursebene von Biographieprojekten zu beleuchten. Auf diese Weise ließe sich insbesondere die Familie Paul Ehrlichs als eigene Akteursgruppe unter systematischen Gesichtspunkten in die Analyse einbeziehen.

Der zweite Tag des Workshops, dessen erstes Panel unter der Überschrift „Kollektivbiographien“ stand, wurde von SILJA BEHRE (Bielefeld) eröffnet. Sie problematisierte in ihrem Vortrag unterschiedliche 1968-Erinnerungsgeschichten aus Frankreich und Deutschland, um Schnittstellen zwischen individuellen und kollektiven Erinnerungskonstruktionen sichtbar zu machen. Im Mittelpunkt stand die Frage, was „1968“ eigentlich sei, und wer sich zum Sprechen über 1968 aufgerufen fühle. Behre wies auf, dass die jeweils individuellen Erinnerungen nicht in „trauter Einigkeit“ ständen, sondern durchaus kontroverse Züge tragen: Individuelle Konflikterinnerungen werden zu kollektiven Erinnerungskonflikten. Um nicht den allgemeinen Vorstellungswelten aufzusitzen, die gegenwärtig „1968“ im öffentlichen Diskurs überlagern, wählte sie eine diskursanalytische Längsschnitt-Rekonstruktion, die Erinnerungskonjunkturen diachron, und Erinnerungskonstellationen synchron zu betrachten erlaubt. Ziel dieser Perspektivierung ist es, sowohl die Entwicklungsgeschichte der „1968er“-Erinnerungen aufzuzeigen, wie auch auf die Jubiläumskontroversen im Jahr 2008 einzugehen. Hierdurch kamen einmal mehr die diesen Auseinandersetzungen zugrunde liegenden Machtkonstellationen zum Ausdruck. Insgesamt konnte deutlich gemacht werden, wie zentral das Jahr „1968“ für die zeitgeschichtlichen Ausdeutungen einzelner Akteure im Horizont der eigenen Lebensgeschichte ist, und diese wiederum auf die kollektive Wahrnehmung zurückwirken.

Der Kommentar von CHRISTIAN KLEIN (Wuppertal) konzentrierte sich zum einen auf die methodische Frage der Quellenlage und ihre gattungsspezifische Differenzierung in Autobiographien, Interviews und ähnlichem. Klein brachte zusätzlich den Brief als zeitnahe Quelle ins Spiel. Daraus leitete sich für ihn die Überlegung nach den verschiedenen Erzählstrukturen und Topoi-Bildungen ab. Zum anderen warf Klein die Frage auf, inwieweit individuelle Texte überhaupt Kollektividentitäten beinhalteten bzw. die Texte selber an deren Konstruktion mitwirkten. Demgegenüber betonte Behre, dass es ihr nicht um eine biographiewissenschaftliche Rekonstruktion alleine ginge. Die Diskussion knüpfte an diesem Punkt an und bezog sich dabei auf die Stellung von prominenten Persönlichkeiten wie Cohn-Bendit, Aly oder Kraushaar in Diskursen um kollektive Deutungsmacht. Zusätzlich kam die Frage nach der geschlechtsspezifischen Dimension auf.

Der zweite Vortrag von CATERINA ROHDE (Bielefeld) beschäftigte sich mit biographischen Handlungsmustern im transnationalen Raum am Beispiel russischer Au-Pair-Mädchen in Deutschland. Sie verdeutlichte, wie biographische Kontinuitäten durch Migration aufgebrochen, und herkömmliche Lebensmuster wie Lehre, Beruf, Familie usw. durch andere Lebensverläufe, die oftmals nicht geplant ablaufen und sich erst situativ ergeben, abgelöst werden. Hieraus würde, so Rohde, die Notwendigkeit des Erlernens neuer Handlungsfertigkeiten erwachsen, die sich vor dem Hintergrund des „culture clash“ zwischen Deutschland und Russland noch einmal verschärft darstellten. Wie man sich einen solchen Verlauf vorzustellen habe, zeigte Rohde am Fallbeispiel „Elena“ auf: Elena, aus Wolgograd kommend, entstammt einer wohlhabenden Familie und ist vom Studium in Russland gelangweilt. In Deutschland fühlt sie sich als Putzhilfe ausgenutzt, so dass sie sich mithilfe einer deutschen Bekannten für ein Studium entscheidet, welches sie mit großem Ehrgeiz verfolgt. Dieses mündet in eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle: Die konfliktfreie Rückkehr nach Russland scheint angesichts zunehmend gesicherterer Verhältnisse in Deutschland erschwert, ihre früheren Bezugsgruppen fallen trotz regelmäßiger Besuche auseinander, bis schließlich der endgültige Abnabelungsprozess vollzogen ist. Nun liegen ihre weiteren Lebenspläne dauerhaft in Deutschland. Rohde verdeutlichte, dass sich gerade aus der situationsabhängigen Spezifik biographischer Lebensverläufe neue Handlungsorientierungen ergeben könnten, die als „Transnationalität“ bezeichnet werden könnten.

Der Kommentar von ANKE TERÖRDE (Bonn) verwies auf die Einzigartigkeit derartiger Entwicklungsprozesse und fragte nach deren Typologisierungspotential. Ebenso wurde der Begriff der „Transnationalität“ problematisiert und nach den nationalen Selbstzuschreibungen der befragten Interviewpartnerinnen selbst gefragt, was Rohde wiederum als tragfähiges Konzept verteidigte. Schließlich hob Terörde auch auf den Begriff des „Lebensentwurfs“ ab und schlug stattdessen den weniger determinierten Begriff des „Lebensprojekts“ vor. In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage nach der Zufälligkeit und Planbarkeit von Lebensverläufen. Die anschließende Diskussion konzentrierte sich vor allem auf die Bewegungen zwischen den Kulturen und die Bedeutung moderner Kommunikationstechnologie zur Aufrechterhaltung transnationaler Identitäten.

Das zweite Panel stand unter der Überschrift „Identitätsbewahrung – Identitätsstiftung“. JEANNETTE PROCHNOW (Bielefeld) stellte dazu ihre Case-Studie zu kommunikativen Praktiken ehemaliger DDR-Arbeiter (Trassenbauer) in der Sowjetunion vor. Sie fokussierte auf die lebendigen Erzählgemeinschaften, die sich in Ehemaligenvereinen organisierten. Im Zentrum ihres Vortrags standen die heterogenen Kommunikationsstrukturen, wie sie sich in der face-to-face-Kommunikation durch regelmäßige Vereinstreffen, aber auch virtuell im Internet (Chatrooms), Museen oder in privaten Räumen gestalteten und funktional zum Erhalt lebendiger Erinnerungsgemeinschaften beitragen. Prochnow arbeitete heraus, dass Sprechen und soziale Praxis insofern in einem engen Zusammenhang ständen, als sie zu einer Binnendifferenzierung verschiedener Berufszweige nach innen (Maurer, Schweißer, Administratoren), jedoch zu einer geschlossenen Identität (Trassenbauer) nach außen führten. Sie betonte, dass es ihr weniger um eine biographische oder kollektive Sinnkonstruktion von Vergangenheit allein, sondern vielmehr um die Aufrechterhaltung gegenwärtiger Kommunikationsstrukturen („Ex-Post-Gruppenkonstituierung“) und ihrer kommunikativen Dynamiken ginge.

Der Kommentar von SABINE AREND (Berlin) hob zunächst auf die schwierige Frage von Gegenwarts- und Vergangenheitsbezug ab. Sie fragte nach der Verknüpfung von Erinnerungen als rekonstruktive Tätigkeit im Horizont kommunikativer Aushandlungsprozesse, in denen um aktuelle Probleme und Tradierungen innerhalb der Erzählgemeinschaft gerungen wird. Anschließend wies sie auf mögliche geschlechtsspezifische und bildungsbasierte Unterschiede hin, und fragte nach der Funktion von Familienangehörigen zur Aufrechterhaltung von Erinnerungen. Methodisch wies Arend auf die Differenzierung verschiedener Kommunikationsräume hin und brachte den Begriff der „Netzwerkanalyse“ ins Spiel. Die Diskussionsrunde ging nochmals methodisch auf die verschiedenen Orte der Kommunikation ein und empfahl, weitere Differenzierungen der Quellen sowie die Berücksichtigung der damit zusammenhängenden Intentionen von Sprechenden vorzunehmen.

DOMINIQUE SCHRÖDER (Bielefeld) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit den „Semantiken des Selbst“ am Beispiel von Identitätskonstruktionen in KZ-Tagebüchern politischer und jüdischer Inhaftierter. In ihrer sprachanalytisch orientierten Vergleichsanalyse stellte sie sich die Frage, welche Themen wie und warum aufgegriffen wurden. Ebenso interessierte sie die diachrone Veränderung von Identität, sowie die Beschreibungen der Diaristen über Mithäftlinge und Bewacher. Eine kontextuelle Differenzierung führte Schröder durch die Unterscheidung von biographischem Sozialisationshintergrund und gegenwärtigem KZ-Alltag der Tagebuchschreiber ein. Des Weiteren führte sie mögliche inhaltliche Unterscheidungskategorien an, die auf empfundene Zeitlichkeit und innere wie äußere Raumvorstellungen abzielten. Schließlich fragte sie nach der sprachlichen Darstellbarkeit des Unaussprechlichen im Holocaust. Den Abschluss bildete ihr Hinweis auf die schwierige Quellenlage, die sich aus späteren Übersetzungsproblemen sowie der schlechten Archivierung bzw. Materialität selbst ergab.

WERNER LAUSECKER (Wien) konzentrierte seinen Kommentar auf vier Fragen: 1. Über wen erfahren wir etwas? 2. Handelt es sich bei KZ-Tagebüchern um eine Aushandlung von Identität oder vielmehr eine Wiederherstellung des Selbst? 3. Inwieweit tritt das Motiv des Zeugnis-Ablegens in KZ-Tagebüchern vor das Motiv der Ich-Thematisierung? 4. Wie kann mit der Vielfalt von Identitäten forschungsstrategisch umgegangen werden? Die Frage eins verwies darauf, dass nur bestimmte Häftlinge überhaupt in der Lage waren, Tagebücher zu verfassen; hinzu kommt, dass wir nur über das Überleben, nicht aber über das Sterben selbst informiert werden. Bei Frage zwei schlug Lausecker vor, Tagebücher nicht als Identitätskonstruktionen zu lesen, sondern sie als Analysen des Selbst im kontextuellen Bezug des Lagers zu verstehen. Frage drei zielte auf die Tradition des jüdischen Zeugnisablegens, die als Perspektive allerdings zu kurz greife, da Zeugnisablegen und Identitätsbewahrung sich nicht ausschlössen. Frage vier schließlich beantwortete Lausecker mit der Pluralität von inneren Selbsten als Möglichkeitsraum von Identität, die letztlich als persönliche Ressourcen auch das eigene Überleben sichern konnten.

Die Diskussionsrunde ging noch einmal auf die Raumfrage als mentale und konkrete ein und diskutierte Kategorien wie „possible worlds“, „wish world“ oder auch imaginierte Gegenräume. In diesem Zusammenhang tauchte der Begriff „Intertextualität“ klassischer Literatur als Gegenweltkonstruktion auf. Auch wurde eine schärfere Differenzierung der verschiedenen Lager sowie der Leitkategorien politische und jüdische Inhaftierte empfohlen.

Die Abschlussdiskussion wurde von LEVKE HARDERS (Bielefeld) eröffnet. Anhand eines Schemas führte sie aus, welche Kernthemenfelder sich während des Workshops herauskristallisiert hatten. Im Mittelpunkt standen dabei unter anderem die biographische Quellenfrage und deren epistemologischen Potentiale wie Grenzen; damit zusammenhängend wurde auch die Frage nach den Vor- und Nachteilen biographischer Forschung erörtert. Weitere Diskussionsfelder bildeten Kernthemen wie „Narration“ und deren Relevanzstrukturen, die Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdkonstruktionen, die Kontexte von Sprechakten, die reziproke Wechselseitigkeit von Individual- und Kollektivbiographie sowie die „Achsen der Ungleichheit“ entlang von Klassen, Schichten, Geschlecht und anderen Machtkonstellationen. Ausdrücklich wurde auf die zunehmende Bedeutung des „Bildes“ für biographische Forschungen verwiesen. Einig waren sich die Teilnehmer über den gelungenen Brückenschlag zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaften, der zur Erhellung „blinder Flecken“ in der jeweils anderen Disziplin beitragen konnte. Es konnte deutlich gemacht werden, dass Biographieforschung ein breites interdisziplinäres Feld darstellt, das mit multiperspektivischen Zugängen zu ihren Feldern arbeitet. Somit konnte auch die zentrale Bedeutung biographischer Forschung jenseits aller Konjunkturen im sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich herausgestellt werden. Letztlich konnte die Gegenüberstellung von Semantik und Biographie dahingehend geklärt werden, dass das Eine immer schon im Anderen mitgedacht werde.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag:
Alf Lüdtke (Göttingen/Erfurt): Individuen in Situationen – mäandernd?

Podiumsdiskussion: Aktuelle Fragen der Biographieforschung
Alois Hahn (Trier/Luzern)
Alf Lüdtke (Göttingen/Erfurt)
Gabriele Rosenthal (Göttingen)

Panel 1

Myriam Richter (Hamburg): Biographie(n) und Wissenschaftsgeschichte(n)

Marén Schorch (Bielefeld): Qualitative Interviews als Biographie-Generatoren

Panel 2: Autobiographien

Julia Herzberg (Bielefeld/München): Semantiken des Seins und Sollens. Zivilisierung und bäuerliche Autobiographik im Zarenreich

Kommentar: Myriam Richter (Hamburg)

Isolde Zimmermann (Bielefeld): Der umstrittene Politiker: Semantiken, Stereotype und Selbstbilder des politischen Personals der III. Republik in Frankreich

Kommentar: Ruth Heftrig (Halle-Wittenberg)

Panel 3: Selbst- und Fremdkonstruktionen

Tobias Weidner (Bielefeld): Das Dilemma der Grenzgänger. Selbstthematisierungen politischer Mediziner im 19. und 20. Jahrhundert

Kommentar: Levke Harders (Bielefeld)

Axel C. Hüntelmann (Bielefeld): Legenden der Wissenschaft. Familiäre Fremdkonstruktion – die Biographie von Paul Ehrlich

Kommentar: Ulrich Prehn (Berlin)

Panel 4: Kollektivbiographien

Silja Behre (Bielefeld): „Bin ich ein 68er?“ – Zur biographischen Selbstkonstruktion ehemaliger Akteure der Protestbewegung in Deutschland und Frankreich

Kommentar: Christian Klein (Wuppertal)

Caterina Rohde (Bielefeld): Transnationale kollektivbiographische Erfahrungen russischer Au-Pairs in Deutschland

Kommentar: Anke Terörde (Bonn)

Panel 5: Identitätsbewahrung – Identitätsstiftung

Jeannette Prochnow (Bielefeld): „Das kann doch nicht sein, dass das alles gewesen ist.“ Kommunikationsethnographie einer ostdeutschen Erinnerungsgemeinschaft

Kommentar: Sabine Arend (Berlin)

Dominique Schröder (Bielefeld): Semantiken des Selbst. Identitätsbewahrung und –konstruktion in KZ-Tagebüchern

Kommentar: Werner Lausecker (Wien)

Abschlussdiskussion